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Dieser Braunschweiger DJ bevorzugt Schallplatten

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Intro

Ein stiller Sonntagmorgen ist es. Der erste Frost hat die Autos mit Rauhreif überzogen, der Atem kondensiert, die Stadt schläft noch. Im Laut-Club an der Hamburger Straße läuft das Kontrastprogramm. Hier schläft niemand und kalt es es auch nicht. Die Luft ist heiß, stickig und feucht. Die Musik: Laut. Das Licht: Aus. Nur ein paar rote Lampen, die sich unablässig bewegen, geben dem Raum eine intime, traumähnliche Atmosphäre. Die Musik kommt aus modernen Boxen, unglaublich laut und trotzdem klar. Weniger modern: Die Musik kommt von einer Schallplatte. Auf dem großen Floor im „Laut“ legt an diesem Sonntagmorgen Andreas Siegemund auf. Und der bevorzugt Vinyl, sprich: Schallplatten. Der 36-Jährige spielt House und bedient sich dabei aus den vergangenen Jahrzehnten.
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Der Zwang zur Schallplatte

Aber warum Vinyl? Sieht man heute DJs, dann drehen sich meist keine Platten mehr, alles passiert digital. Mehr als ein Notebook und ein Mischpult braucht es anscheinend kaum. „Ich bin Vinyl einfach gewohnt“, sagt Siegemund. „Damals, als ich vor über 20 Jahren angefangen habe, gab es die Musik, die ich mag, einfach nur auf Platte. Man war einfach gezwungen, dieses Medium zu kaufen.“ Die Alternative wäre gewesen, sich mitten in der Nacht vor das Radio zu setzen und britische Sender zu hören. Dann galt es, im richtigen Moment auf “Record” zu drücken und man hatte den Song – allerdings auf Kassette. “Ich wollte lieber Platten haben.“ Dass er bis heute dabei geblieben ist, hat auch noch einen anderen Grund: „Ich arbeite einfach gern mit der Hand.“
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Er ist nicht der einzige. 3,1 Millionen Platten wurden laut dem Bundesverband Musikindustrie im Jahr 2016 verkauft, 3,3 Millionen waren es 2017. 2018 ist erstmals seit 2007 wieder ein Rückgang bei den LP-Verkäufen zu verzeichnen. Grund dafür ist das Audiostreaming – weit weg von Handarbeit.
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Handarbeit mit gebrochenem Mittelhandknochen

Für Siegemund zweite Wahl. Er bevorzugt Handarbeit, auch wenn das heute schwer ist, denn die Hand ist ramponiert: Der DJ hat sich vor ein paar Tagen den Mittelhandknochen gebrochen. Auflegen geht trotzdem. „Am Anfang mit der Schiene war es schwieriger“, schmunzelt er. „Da konnte ich nur einhändig. Aber das hat auch funktioniert.“ In solchen Fällen gibt es ausnahmsweise Musik von digitalen Medien. In manchen Klubs sind die Plattenspieler demoliert, Nadeln gebrochen, Kabel abgerissen. Dann nutzt er für den Notfall ein CDJ, quasi ein Gerät, mit dem er Musikdateien abspielen kann, das einem Plattenteller nachempfunden ist. Keine automatische Synchronisation, keine optischen Helfer. Es geht nach Gehör. Die Platte lässt grüßen.
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Viele Plattenspieler sind vernachlässigt

Es geht am Ende darum die Lieder so ineinanderzumixen, dass der Übergang gut klingt und nicht auffällt. Und natürlich muss es passen. Einfach die Lieblingslieder hintereinander abzuspielen, klappt wahrscheinlich nicht. Die Auswahl ist wichtig, der Fluss darf nicht durchbrochen werden. „Mit Platten bekommst du viel mehr Gespür für die Musik“, meint Siegemund. Schwierigkeit: In der Dunkelheit eines Clubs zu erkennen, welche Rille die richtige ist. „An sich hat man am Plattenspieler eine kleine Leuchte, aber seitdem das Digitale Einzug gehalten hat, werden die Plattenspieler vernachlässigt.“
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Aber kein Problem. Grinsend erklärt Siegemund, dass man bei Dunkelheit halt improvisieren müsse und mit dem Feuerzeug oder dem Handy für das Licht sorgt, dass man zum Finden der Rille braucht. Der Sound kommt dann über den Kopfhörer. Der spielt schon den neuen Track, während das freie Ohr noch die alte Musik hört. So wird synchronisiert und abgepasst.
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Plattenspieler der Eltern misshandelt

Im Idealfall läuft es so: Song auswählen, Platte suchen, aus der Hülle nehmen, auflegen, die Nadel platzieren, die Platte eindrehen und im richtigen Moment den alten Song aus- und den neuen einfaden – schon für sich genommen schwer genug. Wenn das alles noch mit einer gebrochenen Hand funktionieren soll, braucht es Routine. Die kommt aus Erfahrung und davon hat Siegemund eine Menge. Los ging es in Kindertagen: „Im Prinzip habe ich erstmal die Plattensammlung und den Plattenspieler meiner Eltern misshandelt. Ich hab halt gewisse DJs im Fernsehen gesehen und fand das cool, vor allem diese ganzen Scratch-Faxen.“ Scratchen ist die Technik, bei der die Platte mit der Hand ruckartig hin und her bewegt wird. Die Eltern fanden es nicht so cool. Und auch Siegemund, der sich mittlerweile besser auskennt, hat nur ein Fazit, wenn er dran denkt, was damals mit Plattenspieler und Sammlung der Eltern getrieben hat: “Mein Gott, was habe ich getan?!”
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Mit 14 kam die Konfirmation und der damit meist einhergehende Geldsegen. Eigentlich war das Geld für den Führerschein gedacht, aber es wurden dann zwei Plattenspieler und ein Mischpult – die komplette Ausstattung. Und weil Plattensammlung, Nadeln und Plattenspieler der Eltern so gebeutelt waren, gab es schnellen Konsens: Der Junge braucht jetzt was Eigenes, was Professionelles, was auch dafür ausgelegt ist. Es hat sich gelohnt.
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Karrierestart im Jugendzentrum Helmstedt

Das war in den frühen 90ern. Die Platten verzeichneten die deutlichsten Rückgänge seit ihrer Hochphase (1978 wurden 64,3 Millionen Exemplare verkauft). Kassette und CD setzten ihr zu. Erst 2007 gab es ein Nischen-Comeback für Vinyl, das bis 2017 andauerte. Elf Jahre lang legte die LP dann wieder zu, bis 2018 Streamingdienste wieder für einen Rückgang sorgen.

Ausgerechnet in den frühen 90ern, den schlimmsten Jahren für das runde Vinyl, bestritt Siegesmund seinen ersten Auftritt vor Publikum - mit 12 Jahren. 
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Nach dem Einstieg in die Szene ging es immer weiter. Zunächst Privatpartys und das Jugendzentrum. Neue Kontakte entstanden, darunter einer, der wichtig werden sollte: Oliver Backhaus. „Der hat mich gut gepusht, hat Partys im House- und Technobereich veranstaltet und mich oft gebucht.“ Schließlich eröffnete Backhaus das „Loco“ in Braunschweig. Für Andreas Siegemund der endgültige Sprung in die Braunschweiger Clubszene. Das Netzwerk wuchs, neue Bekannte, neue Klubs. „Das Brain war eine wichtige Station, wo ich viel machen konnte und auch immer sehr gern gespielt habe.“ Auch “Klinsh”, ein Braunschweiger Kollektiv aus DJs und Produzenten, war und ist prägend.
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Der Club ist eine Herzensangelegenheit

Über all die Kontakte kam dann der Kontakt zum Verein „Kunst und Kultur“ – einem Zusammenschluss diverser Braunschweiger DJs, die als Versammlungsort ihres gemeinnützigen Vereins den Keller eines Hauses in der Hamburger Straße bezogen und zu einem Club ausgebaut haben – dem heutigen „Laut“. „Das ist ein Herzensding, deswegen verzichte ich auch auf meine Gage“, sagt Siegemund. Den Club bauen die KuK-Mitglieder selbst aus, alles ist handgemacht. Viel Freizeit geht hier hinein.
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An diesem Sonntagmorgen spielt Siegemund das „Closing“, den letzten Auftritt des Abends. Vorher hat er das Night-Management übernommen: Hauptact waren die Adana Twins, zwei DJs aus Hamburg, mittlerweile weltweit gebucht. Die beiden haben zuvor gespielt, die letzten beiden Stunden sorgt Siegemund mit klassischem House für einen entspannten Ausklang – und einen kleinen Kontrast zum doch düstereren und technoideren House der Adana Twins. „Das ist manchmal ganz lustig, wenn die Leute eigentlich harten Techno wollen und ich eher melodischen House spiele“, schmunzelt der DJ. „Am Ende stand mal hinterher ein riesengroßer Typ vor mir und ich dachte, der haut mir gleich eine, weil ich nicht seine Musik gespielt habe. Der war aber total beseelt von dem, was ich aufgelegt habe und hat sich bedankt.“
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Lieber kleine Gigs, als große Namen

Auf die Situation käme es an, nicht auf große Namen oder viele Menschen. Dabei hatte er schon Abende mit großen Namen: Tyree Cooper, Dapayk, Steve Bug, Thomas Schumacher, Dirty Döring, um nur einige zu nennen. Doch das sei unwichtig. „Eigentlich genieße ich jeden Gig, den ich spiele.“  
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Wieviele Platten er mittlerweile hat, weiß Andreas Siegemund nicht genau. Gut 3000 dürften es sein. Bis zur 100. Platte hat er noch Liste geführt, alles alphabetisch sortiert. Heute nicht mehr: „Es ist nichts sortiert und ich finde trotzdem alles wieder.“

Für einen Gig nimmt er zwei Plattenkoffer mit. Darin irgendwas zwischen 100 und 200 Platten. „Aus denen improvisiere ich dann, je nach Stimmung und Situation. Das können wochenlang die gleichen Koffer sein und trotzdem ist jedes Set anders.“ Das Publikum zu lesen und auf die Stimmung einzugehen ist eine Sache. Andererseits: „Ich spiele oft mein Ding. Die älteren Housetracks kommen auf Technopartys meist erstmal nicht gut an“. Er habe auch schon Tanzflächen leergespielt. Meistens aber sei es so, dass das Publikum erst einmal irritiert ist, sich dann einlässt und am Ende total gut mitgeht.
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"Bon Voyage“ wünscht der DJ am Ende

Der Abend neigt sich dem Ende. Fatima Yamaha - What’s A Girl To Do läuft, als das Licht angeht, der dunkle Club hell wird und kalte Leuchtstoffröhren die traumartige Situation in die Realität zurückzerren. Es wird gefühlt kalt im Club. Bei Outdoor-Events ist es schöner, weil da die Sonne langsam aufgeht. Hier kommt das Licht brutal, die Musik beendet es sanfter: Siegemund lässt ausfaden, macht den Song immer leiser, entschuldigt sich. Es ist Volkstrauertag, da muss der Tanz früh enden. Normalerweise geht es bis in den Vormittag hinein.
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Einen Track gibt es dann aber noch noch: Zum Schluss des Abends spielt er „Voyage Voyage“ von Desireless, Erscheinungsjahr 1989. Der Track endet. Applaus. „Siggi!“ ruft jemand. Er klatscht, ruft „Bon Voyage!“ „Dankeschön“, sagt eine junge Frau. Jemand sucht sein T-Shirt. Einer steht konsterniert da, rausgerissen aus dem Musikfluss. Siegemund nimmt die Platten von den Tellern, dreht die Knöpfe auf neutral, klappt die Plattenkoffer zu. Draußen ist es mittlerweile hell.
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Credits

Text/Videos/Umsetzung: Philipp Engel 
Fotos: Stefan Koppelmann und Philipp Engel 

Links: 

Sets von Andreas Siegemund  
Laut Klub 
Organic Beats-Festival 
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Kapitel 2 Der Zwang zur Schallplatte

Der Zwang zur Schallplatte

Kapitel 3 Handarbeit mit gebrochenem Mittelhandknochen

Handarbeit mit gebrochenem Mittelhandknochen

Kapitel 4 Viele Plattenspieler sind vernachlässigt

Viele Plattenspieler sind vernachlässigt

Kapitel 5 Plattenspieler der Eltern misshandelt

Plattenspieler der Eltern misshandelt

Kapitel 6 Karrierestart im Jugendzentrum Helmstedt

Karrierestart im Jugendzentrum Helmstedt

Kapitel 9 "Bon Voyage“ wünscht der DJ am Ende

"Bon Voyage“ wünscht der DJ am Ende

Kapitel 10 Credits

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